Schulzeitverkürzung. Ein Artikel gesehen auf Zeit Online.

Ohne viele Worte zitieren wir einen nachdenklich stimmenden Artikel von www.zeit.de. (Autor: Henning Sußebach, 30. Mai 2011):
,Liebe Marie,

Du bist mehr als die Summe deiner Leistungen

Vor fünf Jahren hat ein Kollege in dieser Zeitung geschrieben, er finde die verkürzte Schulzeit gut, denn es sei noch „Luft im System“. Schon möglich. Aber ist Luft schlecht? Ist sie nicht zum Atmen da? Und lernt, wer atmen darf, nicht sogar mehr? Oder jedenfalls lieber?
Das Gerede von der „Luft im System“ ist gefährlich, Marie. Man kann so lange sagen, es sei „Luft im System“, bis keine mehr da ist.
Wir haben Euer Leben den Regeln der Wirtschaft unterworfen: In einem Motor kann Luft schaden, in einem Windkanal ist Druck sinnvoll. Aber wer hat uns eingeredet, dass ein beschleunigtes Leben ein gelingendes Leben ist? Wenn ich sehe, wie Manager auf Flughäfen und in ICE-Abteilen ihre iPhones und BlackBerrys anstarren, auf eingehende Mails so angewiesen wie Junkies auf Rauschgift, und wenn ich höre, wie sie endlos von „Quartalszahlen“, „Jahresabschlüssen“ und der Marktforschung faseln, die sie nur noch „Mafo“ nennen, wie sie von Hamburg nach München fahren, ohne dabei auch nur einen einzigen eigenen Gedanken zu äußern – dann glaube ich, wir sollten uns kein Beispiel an ihnen nehmen.
Es wäre schön, wenn Ihr später nicht nur Zahlen lesen könntet. Sondern auch die Menschen hinter den Zahlen erkennen würdet. Wenn Bildung hieße: mit Wissen vernünftig umgehen. Der Schriftsteller Erich Kästner, von dem Du Das doppelte Lottchen kennst, hat das viel schöner gesagt: „Der Mensch soll lernen, nur die Ochsen büffeln.“
Wir haben Eure Lebensläufe begradigt wie die Flüsse. Wo wir noch mäandern konnten, uns treiben ließen, rauscht Ihr geradeaus durch. Es wäre schade, wenn dabei alles an Euch glatt geschliffen würde, wenn von Eurer Persönlichkeit nicht mehr viel übrig bliebe. Das hört sich sehr hässlich an, Marie, aber: Ich habe nicht nur Mitleid mit Euch als Kindern. Ich habe auch ein bisschen Angst vor Euch als Erwachsenen.
Wenn Du Abitur machst, wirst Du 17 sein. Mit 17 lassen wir Euch nicht alleine Auto fahren und keine Mietverträge unterschreiben. Wenn Du Pech hast, musst Du Dich für ein Leben als Lehrerin, als Mathematikerin, als Managerin entscheiden, bevor Du überhaupt weißt, was Du kannst, was Du willst, wer Du bist. Falls Du dann ein eiliges Bachelorstudium durchhastest, wirst Du mit 20 die Universität verlassen. Worauf haben wir uns da nur eingelassen? Wollen wir, dass unsere Enkel von 21-jährigen Lehrern unterrichtet werden, die kaum mehr von der Welt gesehen haben als Legehennen? Wollen wir uns von 22-jährigen Bankern mit Geradeausbiografien betreuen lassen? Uns von 23-jährigen Unternehmensberatern begutachten lassen?
Wenn Dich Deine Lehrer, unsere Nachbarn oder die Eltern Deiner Freundinnen jetzt fragen, warum Dein Vater so aufgebracht ist, dann musst Du wissen: Es liegt nicht an Dir. Wer glaubt, ich schreibe hier gegen schlechte Noten an, der hat nichts begriffen. Deine Zensuren sind gut. Ich bin zornig, weil wir Eure Kinderzimmer zu Büros gemacht haben, Eure Schreibtische zu Werkbänken, Eure Köpfe zu Lagerhallen.
Wenn sie Dir sagen, es ist doch nur das eine Jahr, dann antworte ihnen, es geht um Millionen beschleunigter Leben. Und wenn sie Dich fragen: „Acht oder neun Jahre, ist das nicht einerlei?“, dann sag ihnen: Was wäre los, wenn die Lokführer plötzlich 15 Prozent mehr arbeiten müssten? Dieses Land stünde still, über Wochen. Die Tagesschau würde Abend für Abend mit Streikmeldungen beginnen. Es gäbe Demonstrationen, auf denen wütende Männer rote Fahnen schwenken. Es gäbe aufgeregte Talkrunden im Fernsehen, in denen die Erwachsenen „Ausbeutung“ und „Raubtierkapitalismus“ brüllten.
Natürlich frage ich mich: Ist eine Sache nicht nur dann schlimm, wenn Du, Marie, sie selber schlimm findest? Habe ich Dich mit diesem Brief zum Faulenzen aufgefordert, Dir Ausreden und Ausflüchte in den Mund gelegt? Habe ich Dich verwirrt? Dir überflüssige Sorgen gemacht? Ich hoffe fast, dass Du diesen Brief inzwischen zur Seite geschoben hast und irgendwo Waveboard fährst, weil Du das Geschreibsel hier dröge findest und sowieso Quatsch ist, was von den Eltern so kommt.
Aber Du sollst ruhig wissen, warum wir auf dem Weg ins Kino 17², 56 und 28 gelernt haben.
Du sollst wissen, warum ich Dich manchmal dressiere wie ein Dompteur sein Zirkuspferd – und mir dann wieder auf die Lippen beiße, statt nach der Schule zu fragen.
Du sollst wissen, dass Du mehr bist als die Summe deiner Leistungen.
Du sollst wissen, warum es manche Deiner Freundinnen nicht schaffen werden, warum ihre Stühle irgendwann leer bleiben werden.
Du sollst wissen, dass Depression keine Kinderkrankheit ist.
Du sollst wissen, dass die Schulzeit mehr sein sollte als ein Trainingslager fürs Berufsleben.
Du sollst wissen, dass die Gesellschaft an denen wächst, die sie infrage stellen.
Und Du sollst wissen, dass ich Dir das gestohlene Jahr zurückgeben möchte. An jedem Tag, an jedem Wochenende – und nach dem Abitur. Am besten kein Auslandsstudium. Kein Sommerseminar. Sondern einfach eine Reise ohne Weg und ohne Ziel. Denn wenn Du Deine Seele bis dahin nicht in einem Klassenzimmer gefunden hast, wirst Du sie auch in einem Hörsaal nicht finden. Aber vielleicht tief in einem finnischen Wald, mitten in einem äthiopischen Dorf oder auf der Sitzbank eines amerikanischen Überlandbusses. Irgendwo, irgendwann, wenn Du es nicht erwartest.
Und ich hoffe, dass Du mich dann, wenn es losgehen soll, nicht mitleidig anschaust und sagst: „Das ist doch reine Zeitverschwendung.“
Dein Papa‘
Für das abigrafen.de-Team,
Regina

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